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Antike DNA erzählt Herkunft der aschkenasischen Juden

In Erfurt wurden Wissenschaftler der Harvard University und der Hebrew University of Jersualem fündig. Sie extrahierten antike DNA aus den Zähnen von Mitgliedern der aschkenasischen jüdischen Gemeinde. Das Ergebnis: Diese einst blühende Gemeinschaft war genetisch vielfältiger als die heutigen aschkenasischen Juden.

Geschrieben von:

Kornelia C. Rebel

Medizinisch überprüft von:

Dr. Iris Belfort

Inhaltsüberblick

Zuletzt aktualisiert am 10. März 2023 um 20:30

Erbmaterial von Zähnen verwendet

DNA aus antiken Zähnen hat einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern einen Blick in das Leben der mittelalterlichen aschkenasischen jüdischen Gemeinde in Erfurt ermöglicht. Die Ergebnisse der außergewöhnlichen Studie wurden im Wissenschaftsmagazin Cell vorgestellt.

„Wenn Sie heute aschkenasische Juden aus den Vereinigten Staaten und Israel vergleichen, sind sie genetisch sehr ähnlich, fast wie die gleiche Bevölkerung, unabhängig davon, wo sie leben“, sagt der Genetiker und Co-Korrespondenzautor Shai Carmi von der Hebräischen Universität Jerusalem. Aber im Gegensatz zur heutigen genetischen Einheitlichkeit stellte sich heraus, dass die Gemeinschaft vor 600 Jahren wesentlich vielfältiger war.

Ursprung der Aschkenasen im Rheinland

Aschkenasische Juden (AJ) entstanden im 10. Jahrhundert als eigenständige ethno-religiöse Kulturgruppe im Rheinland. Seitdem hat sich die AJ-Population sowohl geografisch, zunächst nach Osteuropa und dann über Europa hinaus, als auch zahlenmäßig erheblich ausgeweitet und zählt heute etwa 10 Millionen Mitglieder.

Seit den Anfängen der Humangenetik hat sich das Erbmaterial der AJ als besonders interessant herausgestellt. Dutzende von pathogenen rezessiven Varianten wurden bereits identifiziert. So führt ein mutiertes Gen bei Frauen häufig bereits in jungen Jahren zu Brust- oder Eierstockkrebs. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurden erfolgreiche Screening-Programme entwickelt.

Fast identische Haplotypen bei nicht verwandten Menschen

Ein großer Teil von Genvarianten ist außerhalb von AJ äußerst selten und erscheint vor dem Hintergrund lang geteilter Haplotypen. Das bedeutet, dass die AJ von einer kleinen Gruppe von Vorfahren abstammen. Als Haplotyp bezeichnet man eine Sequenz von Nukleotiden, die aus den Allelen mehrerer Gene zusammengesetzt ist.

Das aschkenasische „Gründerereignis“ zeigt sich auch in vier mitochondrialen Linien, die von 40 % der AJ getragen werden. In jüngerer Zeit fanden Studien hohe Raten von identischer Abstammung bei AJ. Nahezu identische lange Haplotypen wurden bei nicht verwandten Individuen beobachtet.

Zwei genetisch unterschiedliche Gruppen in Erfurt

Allerdings war das Erbmaterial der AJ vor mehreren hundert Jahren noch vielfältiger. Beim Ausgraben der alten DNA von 33 aschkenasischen Juden aus dem mittelalterlichen Erfurt entdeckte das Team, dass die mittelalterliche Gemeinde in zwei Gruppen eingeteilt werden kann.

Die eine bestand eher aus Personen, die von der nahöstlichen Bevölkerung abstammten. Die andere Gruppe hatte europäische Wurzeln. Möglicherweise kamen sie aus Osteuropa nach Erfurt. Beide Bevölkerungsgruppen waren im mittelalterlichen Erfurt genetisch deutlich verschieden. Diese Variation in der Herkunft der Vorfahren existiert jedoch bei modernen aschkenasischen Juden nicht mehr.

Lücken in der jüdischen Frühgeschichte schließen

„Unser Ziel war es, die Lücken in unserem Verständnis der aschkenasischen jüdischen Frühgeschichte durch alte DNA-Daten zu schließen“, sagte Carmi bei der Vorstellung der Studie. Während alte DNA-Daten ein mächtiges Werkzeug sind, um auf historische Demografien zu schließen, sind alte jüdische DNA-Daten schwer zu bekommen, da das jüdische Gesetz die Störung der Toten in den meisten Fällen verbietet.

Mit Zustimmung der örtlichen jüdischen Gemeinde in Deutschland sammelte das Forschungsteam abgelöste Zähne von Überresten, die auf einem jüdischen Friedhof aus dem 14. Jahrhundert in Erfurt gefunden wurden. Sie waren bei einer Rettungsgrabung zu Tage getreten.

Eine Frau Ahnin für ein Drittel der Erfurter AJ

Die Forscher entdeckten auch, dass das Gründungsereignis, das alle heutigen aschkenasischen Juden zu Nachkommen einer kleinen Bevölkerung macht, vor dem 14. Jahrhundert stattfand. Bei der Untersuchung der mitochondrialen DNA, dem genetischen Material, das wir von unseren Müttern erben, fanden sie heraus, dass ein Drittel der Erfurter Individuen eine bestimmte Sequenz gemeinsam haben.

Das bedeutet, die frühe aschkenasische jüdische Bevölkerung war so klein, dass am Anfang ein Drittel der Erfurter durch ihre mütterliche Linie von einer einzigen Frau abstammten.

Verfolgte Minderheit auch in Erfurt

Mindestens 8 der Erfurter trugen auch krankheitsverursachende genetische Mutationen, die bei heutigen aschkenasischen Juden üblich, aber in anderen Bevölkerungsgruppen selten sind – ein Markenzeichen des aschkenasischen jüdischen Gründungsereignisses.

„Juden in Europa waren eine religiöse Minderheit, die sozial getrennt war und regelmäßig verfolgt wurde“, sagt der Genetiker und Co-Autor David Reich von der Harvard University. Obwohl antisemitische Gewalt 1349 die jüdische Gemeinde Erfurts praktisch auslöschte, kehrten die Juden fünf Jahre später zurück und wuchsen zu einer der größten in Deutschland heran. Reich: „Unsere Arbeit gibt uns direkten Einblick in die Struktur dieser Gemeinschaft.“

Ethische Grundlage für zukünftige Studien

Das Team glaubt, dass die aktuelle Studie dazu beiträgt, eine ethische Grundlage für Studien über alte jüdische DNA zu schaffen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, wie zum Beispiel, wie mittelalterliche aschkenasische jüdische Gemeinden genetisch differenziert wurden, wie frühe aschkenasische Juden mit sephardischen Juden und wie moderne Juden mit denen aus dem alten Judäa verwandt waren.

„Diese Arbeit liefert auch eine Vorlage dafür, wie eine Co-Analyse moderner und alter DNA-Daten Licht in die Vergangenheit bringen kann“, sagte Reich. „Studien wie diese sind vielversprechend, nicht nur für das Verständnis der jüdischen Geschichte, sondern auch für die jeder Bevölkerung.“

Quelle:

Shamam Waldman, Daniel Backenroth, Éadaoin Harney, Stefan Flohr, Nadia C. Neff, Gina M. Buckley, Hila Fridman, Ali Akbari, Nadin Rohland, Swapan Mallick, Jorge Cano Nistal, Jin Yu, Nir Barzilai, Inga Peter, Gil Atzmon, Harry Ostrer, Todd Lencz, Yosef E. Maruvka, Maike Lämmerhirt, Leonard V. Rutgers, Virginie Renson, Keith M. Prufer, Stephan Schiffels, Harald Ringbauer, Karin Sczech, Shai Carmi, David Reich. Genome-wide data from medieval German Jews show that the Ashkenazi founder event pre-dated the 14th century. bioRxiv 2022.05.13.491805; doi: https://doi.org/10.1101/2022.05.13.491805 (https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(22)01378-2)

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