Zuletzt aktualisiert am 24. November 2022 um 16:36
Immunsystem bekommt weniger Energie
Die „Life History Theory“ wurde in den 50er Jahren im Rahmen der Evolutionsbiologie vorgestellt. Demnach verwendet jeder Organismus seine Ressourcen in einer günstigen Umwelt in erster Linie für Wachstum und Reproduktion. In einer feindlichen Umgebung spart er jedoch Energie ein und wappnet sich für die Abwehr von Angriffen. Wachstum und Reproduktion stehen in dieser Zeit in einer Warteschleife.
Wissenschaftler der Universität Genf (UNIGE) haben diese Idee nun auf Autoimmunerkrankungen angewandt. Autoimmunerkrankungen treten auf, wenn das Immunsystem körpereigene Organe angreift. Typ-1-Diabetes zum Beispiel wird durch die irrtümliche Zerstörung von insulinproduzierenden Pankreaszellen verursacht.
Multiple Sklerose ist die häufigste Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, das aus Gehirn und Rückenmark besteht. Bei dieser Krankheit wird die Myelinscheide zerstört, die Nervenzellen schützt und für die korrekte und schnelle Übertragung elektrischer Signale wichtig ist. Die Zerstörung von Myelin durch chronische Entzündungen führt zu neurologischen Behinderungen bis hin zu Lähmungen.
Für die aktuelle Studie untersuchte das Forscherteam Mäuse, die an einem Multiple-Sklerose-Modell litten. Tatsächlich gelang es den Wissenschaftlern zu zeigen, dass Kälte den Organismus entsprechend der Life History Theory beeinflusst. Die Kälteeinwirkung führt dazu, dass der Körper die Aufrechterhaltung der richtigen Temperatur als oberste Priorität behandelt.
Die Abwehrmechanismen unseres Körpers gegen eine feindliche Umgebung kosten viel Kraft. Wenn die Umwelt sie aktiviert, muss der Stoffwechsel bei der Verteilung der Ressourcen Prioritäten setzen. Dieser Mechanismus kann bei Autoimmunerkrankungen offensichtlich mit positiver Wirkung eingesetzt werden.
Kälte zieht Energie vom Immunsystem ab. Daraufhin hat es weniger Möglichkeiten, fehlgeleitete Programme durchzuführen, so Mirko Trajkovski, Professor in der Abteilung für Zellphysiologie und Stoffwechsel und am Diabeteszentrum der Medizinischen Fakultät der UNIGE und Erstautor der Studie.
Um ihre Hypothese zu testen, platzierten die Wissenschaftler Mäuse mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis, ein Modell der Multiplen Sklerose beim Menschen, nach einer Akklimatisierungsphase in eine Umgebung mit nur rund 10 Grad Celsius.
„Wir haben nach wenigen Tagen eine deutliche Verbesserung des klinischen Schweregrades der Erkrankung sowie des Ausmaßes der beobachteten Demyelinisierung im Zentralnervensystem beobachtet“, erklärte Doron Merkler, Professor am Institut für Pathologie und Immunologie und am Zentrum für Entzündungsforschung an der Medizinischen Fakultät der UNIGE und Mitautor der Arbeit.
„Die Tiere hatten keine Schwierigkeiten, ihre Körpertemperatur auf einem normalen Niveau zu halten. Aber die Symptome von Bewegungsstörungen gingen dramatisch zurück, von der Unfähigkeit, auf den Hinterpfoten zu gehen, bis hin zu einer leichten Lähmung des Schwanzes.“
Die Immunantwort basiert unter anderem auf der Fähigkeit sogenannter Antigen-präsentierender Monozyten, T-Zellen anzuweisen, die zu bekämpfenden „fremden“ Elemente zu erkennen. Bei Autoimmunerkrankungen werden die Antigene des eigenen Körpers mit fremden Antigenen verwechselt. „Wir zeigen, dass Kälte die Aktivität entzündlicher Monozyten moduliert, indem sie ihre Antigen-Präsentationskapazität verringert,“ sagte Mirko Trajkovski. Dadurch werden die T-Zellen in geringerem Umfang aktiviert.
Die Kälte zwingt den Körper, mehr Wärme zu produzieren. Das entzieht dem Immunsystem Energie, führt zu einer Abnahme schädlicher Immunzellen und verbessert somit die Symptome der Krankheit.
Seit Jahrzehnten steigen in Ländern mit westlichem Lebensstil die Zahlen der Patienten mit Autoimmunerkrankungen ständig an. „Obwohl dieser Anstieg zweifellos multifaktoriell ist, könnte die Tatsache, dass wir über eine Fülle von Energieressourcen verfügen, eine wichtige, aber noch wenig verstandene Rolle bei der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen spielen“, so Doron Merkler abschließend.
Quelle:
Spiljar, Martina & Steinbach, Karin & Rigo, Dorothee & Suarez Zamorano, Nicolas & Wagner, Ingrid & Hadadi, Noushin & Vincenti, Ilena & Page, Nicolas & Klimek, Bogna & Rochat, Mary-Aude & Kreutzfeldt, Mario & Chevalier, Claire & Stojanović, Ozren & Mack, Matthias & Cansever, Dilay & Greter, Melanie & Merkler, Doron. (2020). Cold Exposure Protects from Neuroinflammation Through Immunologic Reprogramming. 10.1101/2020.08.28.269563. (https://www.researchgate.net/publication/343994711_Cold_Exposure_Protects_from_Neuroinflammation_Through_Immunologic_Reprogramming)