Infektionen vielleicht Lösung des sardischen Rätsels
Die zweitgrößte Insel im Mittelmeer, Sardinien, gehört zu den sogenannten Blue Zones (Blaue Zonen). An diesen Orten haben Menschen eine etwa zehnmal höhere Chance, gesund und fit 100 Jahre und älter zu werden. Allerdings zählt nicht die gesamte Insel Sardinien zu den Zonen mit extremer Langlebigkeit.
Die sardische Blaue Zone ist auf eine Reihe von Bergdörfern beschränkt, die sich in den Unterregionen Ogliastra und Barbagia der Insel befinden. Sechs dieser Dörfer erfüllen offiziell die Standards der Blauen Zonen, und weitere acht warten auf die Bestätigung.
Mediterrane Ernährung mit viel Ballaststoffen
Da stellt sich die Frage: Beherbergen diese Bergdörfer einen Jungbrunnen oder sind andere Gründe für die Langlebigkeit verantwortlich?
Folgende Faktoren zeichnen die sardische Blaue Zone aus:
- Hauptsächlich Hirtenarbeit mit Schafen
- Hohe körperliche Aktivität
- Niedriger Body-Mass-Index (BMI)
- Erfolgreiche Mechanismen für Stressbewältigung
- Hohes Maß an Wohlbefinden
Zudem ernähren sich die Bewohner mit einer mediterranen Diät, die reich an Vollkornprodukten, Obst und Gemüse ist. Ziegen- und Schafmilchprodukten sowie tierischen Proteine verzehren sie mäßig.
Haben Schäfer ein besonders geschultes Immunsystem?
Die Autoren der aktuellen Studie sind der Meinung, dass der Hauptgrund für das hohe Lebensalter in der sardischen Blauen Zone ein geschultes Immunsystem ist. Viele der sardischen Hundertjährigen waren oder sind als Schäfer tätig. Dies brachte sie mit mehr Krankheitserregern und Mikroben in Kontakt als der durchschnittliche Nicht-Hirten-Italiener. Als Beispiele nennen die Studienautoren Helicobacter pylori. Schafsmilch gehört zu den Lebensmitteln, die häufig mit diesem Bakterium kontaminiert sind.
Helicobacter pylori verursacht Magengeschwüre und ist ein Risikofaktor für Magenkrebs. Oft verläuft eine Infektion aber auch ohne Symptome. In der ländlichen Umgebung vor den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts infizierten sich Kinder auch häufig mit dem Darmwurm Enterobius vermicularis (Madenwurm). Diese Kinder sind die alten Einwohner Sardiniens von heute.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rottete ein großes Vektor-Eradikationsprogramm die Malaria auf Sardinien aus. Davor war Malaria jedoch ein großes Gesundheitsproblem auf Sardinien und könnte zu dem trainierten Immunsystem beigetragen haben.
Langes Leben durch Training fürs Immunsystem
Durch die Beurteilung der verschiedenen Faktoren stellten die Wissenschaftler folgende Hypothese auf:
Menschen in der sardischen Blauen Zone haben eine extreme Langlebigkeit dank ihrer einzigartigen Kontaktgeschichte mit Infektionskrankheiten. Diese Vorgeschichte hat das Immunsystem dieser Personen gestärkt und so positiv beeinflusst, dass sie erfolgreich altern konnten.
Der hier vorgeschlagene Schlüssel ist eine trainierte Immunität. Darunter versteht man das Phänomen, dass die Exposition gegenüber Krankheitserregern zu einem verbesserten Schutz gegen dieselben oder andere Mikroben führen kann. Trainierte Immunität entsteht durch epigenetische und metabolische Reprogrammierung angeborener Immunzellen.
Besonders starke Hemmung von Entzündungen
Eine trainierte Immunität kann jahrelang anhalten und sowohl positive als auch nachteilige Auswirkungen auf die allgemeine menschliche Gesundheit haben, mit Auswirkungen auf chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, das Auftreten von Demenz und Krebs.
Was beeinflusst die trainierte Immunität? Die Art und die Dosis der Exposition, genetische Faktoren sowie Lebensstils und bisher unbekannte Mechanismen können das Gleichgewicht von schädlich zu schützend für eine trainierte Immunität verschieben.
Die Forscher vermuten, dass die sardischen Hundertjährigen aufgrund ihrer spezifischen Infektionsgeschichte ein speziell trainiertes Immunsystem haben. Demnach ist es auf die Hemmung von Entzündungen ausgerichtet. Das kann immunvermittelte Gewebeschäden verlangsamen oder verhindern.
Sie betonen in ihrer Studie: „Zusammengenommen, so argumentieren wir, tragen diese Faktoren zur Langlebigkeit bei, indem sie ein trainiertes angeborenes Immunsystem fördern, das, wenn es durch aktuelle Umweltauslöser aktiviert wird, eine Wirtsreaktion einleitet, die von Natur aus weitgehend nicht proinflammatorisch ist und ein geringes Maß an Gewebeverletzung begünstigt.“
Natürlich gibt es viele genetische Faktoren und andere Aspekte des Lebensstils, die an der Langlebigkeit der Bewohner der sardischen Blauen Zone beteiligt sind. Die aktuelle Studie zeigt jedoch, wie wichtig der Kontakt mit Mikroben sein kann.
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Quelle:
Soloski MJ, Poulain M, Pes GM. Does the trained immune system play an important role in the extreme longevity that is seen in the Sardinian blue zone? Front Aging. 2022 Dec 19;3:1069415. doi: 10.3389/fragi.2022.1069415. PMID: 36601618; PMCID: PMC9806115. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36601618/)