Empfindlich für Berührungen und Temperatur
Chronische Magen-Darm-Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom betreffen immer mehr Menschen. Experten schätzen, dass weltweit mindestens 10 Millionen Menschen an Morbus Crohn und Colitis ulcerosa leiden – Tendenz stark steigend. In Deutschland sollen mindestens 400.000 Menschen von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen betroffen sein.
Alle haben ein gemeinsames Symptom: Extreme Verdauungsbeschwerden, die meist mit starken Bauchschmerzen verbunden sind. Ein Rezeptor, der für unseren Tast- und Temperatursinn verantwortlich ist, könnte jetzt zu neuen Behandlungen für diese Schmerzen führen.
Piezo2 für schnelle Reizweiterleitung
Die US-amerikanischen Forscher haben Piezo2 im Dickdarm gefunden. Dr. Hongzhen Hu, von der Washington University, und Dr. Nick Spencer von der Flinders University in Adelaide, Australien, leiteten die Studie, die im Wissenschaftsmagazin Neuron veröffentlicht wurde.
Bei den Rezeptoren Piezo1 und Piezo2 handelt es sich um sogenannte Ionenkanäle. Sie bestehen aus porenbildenden Transmembranproteinen. Wenn sie sich öffnen, können elektrisch geladene Teilchen, Ionen, die Zellmembran durchqueren und so Reize weiterleiten.
Piezo1 und Piezo2 machten im Jahr 2021 Schlagzeilen, weil ihre Entdecker den Nobelpreis für Medizin bekamen. Während Piezo1 für die Bildung von Blutgefäßen verantwortlich ist, reagiert Piezo2 auf leichteste Berührungen. Er öffnet sich und ermöglicht so die schnelle Reizweiterleitung ans Gehirn.
Dank neuem Rezeptor Opiate vermeiden
Gefunden wurde Piezo2 zunächst nur in der Haut. „Durch die Entdeckung, dass sich dieser Rezeptor auch in unserem Darm befindet, besteht die Möglichkeit, dass die selektive Ausrichtung auf diese Kanäle zur langfristigen Unterdrückung von Schmerzempfindungen von inneren Organen verwendet werden könnte, ohne dass häufig Opiat-Schmerzmittel eingenommen werden müssen“, sagte Dr. Spencer bei der Vorstellung der Studie.
Dr. Spencer, Dr. Hu und ihre Kollegen verliehen ihrer Arbeit Titel: „Piezo2-Kanäle, die von Colon-innervierenden Neuronen der TRPV1-Linie exprimiert werden, vermitteln viszerale mechanische Überempfindlichkeit.“
Chronische Bauchschmerzen schwer zu behandeln
Entzündliche und funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom (IBS) und die obstruktive Darmerkrankung (OBD) liegen den häufigsten Formen von viszeralen Schmerzen zugrunde, schreiben die Autoren. Viszerale Schmerzen ist der wissenschaftliche Ausdruck für Bauchweh.
Dr. Spencer: „Chronische Schmerzen von inneren Organen wie dem Darm oder der Blase sind notorisch schwer zu behandeln. Opiate, einschließlich Morphin und ihre Derivate, wurden häufig zur Behandlung einer Vielzahl von Schmerzarten eingesetzt, aber viszerale Schmerzen sprechen nicht gut auf die Behandlung an und die Medikamente machen stark abhängig und haben eine Vielzahl von Nebenwirkungen.“
Wissenslücke bei Schmerzempfindung im Bauchraum
Die Autoren sagen, dass die Entdeckung der Piezo2-Rezeptoren im Dickdarm die Behandlung von viszeralen Schmerzen stark verbessern könnte. Bislang habe mangelndes Verständnis darüber, wie sensorische Nerven Schmerzempfindungen vom Darm an das Gehirn übermitteln, die Verfügbarkeit von selektiven Schmerzmitteln für den Bauchraum behindert.
Bisher seien die dabei auftretenden Mechanismen kaum verstanden worden. Der daraus resultierende Mangel an wirksamen Behandlungen stelle ein großes medizinisches Problem dar, das auf eine Lösung warte.
Bisher von der Forschung vernachlässigt
Die Studienautoren betonten, dass viszerale Schmerzen im Gegensatz zu chronischen somatischen Schmerzen, die ein Schwerpunkt der Forschung und Arzneimittelentwicklung sind, trotz ihres größeren klinischen Bedarfs bisher vernachlässigt wurden.
Die neue Studie zeigte, dass der für Berührungen sensitive Piezo2-Kanal, der von Neuronen der TRPV1-Linie exprimiert wird, entscheidend an der Erzeugung der viszeralen mechanischen Nozizeption unter physiologischen Bedingungen und der mechanischen Überempfindlichkeit in Mausmodellen von IBS und partieller Dickdarmobstruktion (PCO) beteiligt ist. Nozizeption ist die Wahrnehmung von schädlichen Reizen, die Schmerzen auslösen.
Die Wissenschaftler haben in Tierversuchen herausgefunden, dass die Piezo2-Kanäle im Dickdarm ein großer Teil der Nozizeption bei viszeralen Schmerzen sind.
Wichtigster Ionenkanal im Dickdarm
Demnach sei wichtig, dass Piezo2-Kanäle, die von viszeralen Nozizeptoren der TRPV1-Linie exprimiert werden, sich auch als entscheidender Mediator pathologischer viszeraler mechanischer Überempfindlichkeit in Mausmodellen von IBS und PCO erwiesen haben, wodurch Piezo2-Kanäle als potenzielles therapeutisches Ziel für die Behandlung von chronischen viszeralen Schmerzen identifiziert wurden.
Es war zuvor bereits bekannt, dass sich viele verschiedene Ionenkanäle auf den „schmerzempfindlichen“ Neuronen befinden, die vom Darm zum Gehirn kommunizieren. Die neue Studie hat nun den wichtigsten Ionenkanal im Dickdarm identifiziert, der auf mechanische Stimulation reagiert.
Dr. Spencer: „Wir haben entdeckt, dass der Hauptionenkanal, der auf diesen mechanischen Schmerz reagiert, ein Mitglied des Piezo-Ionenkanals ist, insbesondere Piezo2. Mit diesem Wissen können wir uns darauf konzentrieren, diese Kanäle gezielt einzusetzen, um die Schmerzempfindungen zum Schweigen zu bringen und hoffentlich eine Behandlung für viszerale Schmerzen zu entwickeln, die häufig bei Erkrankungen wie Reizdarmsyndrom, Endometriose oder Bauchkrebs auftreten, und gleichzeitig die verheerenden Nebenwirkungen von Opioiden vermeiden.“
Quelle:
Xie Z, Feng J, Hibberd TJ, Chen BN, Zhao Y, Zang K, Hu X, Yang X, Chen L, Brookes SJ, Spencer NJ, Hu H. Piezo2 channels expressed by colon-innervating TRPV1-lineage neurons mediate visceral mechanical hypersensitivity. Neuron. 2022 Dec 16:S0896-6273(22)01069-8. doi: 10.1016/j.neuron.2022.11.015. Epub ahead of print. PMID: 36563677. (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36563677/)